Sanft wird das Alpendorf von der Dämmerung umarmt. Wer an Christian Bolts lichtdurchfluteter Werkhalle vorbeigeht, reibt sich die Augen. Das topmoderne Atelier ist ein Hingucker. Der umgebaute Stall strahlt Grandezza aus, wie man es sich im mondänen Klosters gewohnt ist. Der Künstler feilt gerade an einer mittelgrossen Marmorskulptur. Sie heisst «Homo Faber», ist ein männlicher Akt mit überdimensionierten Händen, einem muskulösen Körper und unfertigen Beinen. Am auffälligsten ist, dass der Kopf fehlt. Wo ist er geblieben?
Bolt stammt ursprünglich aus Zürich. Seit 20 Jahren lebt er im Bündnerland. Gekonnt interpretiert er die Tradition der alten Meister neu. Schlägt Brücken zwischen klassischer und zeitgenössischer Kunst, Figuration und Abstraktion – und das bewusst manchmal kopflos. In diesem Dialog kann er sich von morgens früh bis spätabends verlieren. Unterstützt von Assistent Patrick Heusser, mit dem er seit vier Jahren an neuen Techniken tüftelt.
Bolt zählt nicht nur zu den erfolgreichsten Marmormeistern in Europa. Er ist auch der erste Schweizer Professor an der ältesten Kunstakademie Europas. Die Universität in Florenz birgt zahlreiche Kunstschätze. Der grösste Schatz jedoch ist das profunde Wissen über die Kulturgeschichte, das sich der leidenschaftliche Student an der Accademia di Belle Arti in Carrara und Florenz über die Jahre angeeignet hat. Die Karriere des Weltenbürgers startete 2001. «Ich liebe es, die Grenzen der menschlichen Existenz auszuloten. Das Leben ist etwas Fliessendes.» Dank seinem eleganten Look und der schwarzen Brille würde man ihn eher für einen Top-Banker halten. Doch Christian Bolt ist in Tat und Wahrheit ein Schwerarbeiter. Wie anstrengend es ist, einer steinernen Figur Energie einzuhauchen, wird während des aufwendigen Arbeitsprozesses sichtbar.
«Ich sehe zwar brav aus, bin aber ein wilder Chaib», meint er schelmisch und greift zu Hammer und Meissel. Damit schlägt er die groben Stücke weg. Hauen, fräsen, brechen, schleifen, polieren: Jede Faser seines Körpers ist angespannt. Bolt scheint im Element zu sein. Er strahlt – man kann es durch die Schutzbrille sehen. Feiner Marmorstaub rieselt durch die Luft. Überzieht wie Raureif Kleider, Haare und Boden. Obschon die Digitalisierung auch vor der Bildhauerei nicht haltmacht und Roboter längst schwere Arbeiten ausführen können, macht er lieber alle Schritte selber. «Ich finde, dass wir Künstler gerade heute eine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber haben. Es macht mir Spass, die Grösse auszuloten. Diese Herausforderung nehme ich gerne an.» Er zeigt auf das Stück Marmor vor ihm. «Ohne den Menschen wäre dies ein lebloser, seelenloser Steinbrocken. Daran wird sich auch in den nächsten 100 Jahren nichts ändern.»
Bolt scheint im Element zu sein. Er strahlt – man kann es durch die Schutzbrille sehen. Feiner Marmorstaub rieselt durch die Luft. Überzieht wie Raureif Kleider, Haare und Boden. Obschon die Digitalisierung auch vor der Bildhauerei nicht haltmacht und Roboter längst schwere Arbeiten ausführen können, macht er lieber alle Schritte selber.
«Ich finde, dass wir Künstler gerade heute eine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber haben. Es macht mir Spass, die Grösse auszuloten. Diese Herausforderung nehme ich gerne an.» Er zeigt auf das Stück Marmor vor ihm. «Ohne den Menschen wäre dies ein lebloser, seelenloser Steinbrocken. Daran wird sich auch in den nächsten 100 Jahren nichts ändern.»
Die Blöcke wiegen mehrere Tonnen. Sie werden mit dem Lastwagen aus Carrara in Klosters angeliefert, auf eine Hebebühne gehievt und bearbeitet. Der edle Carrara-Marmor – Bolts Lieblingsstein – stammt aus den berühmten Brüchen in der Toskana, wo auch Michelangelo das Material bezog. Den 5,17 Meter grossen David schuf dieser aus einem einzigen Stück!
Seit Jahrhunderten zieht dieses Meisterwerk die Besucher in den Uffizien in Florenz in seinen Bann. Carrara ist der Rolls-Royce unter den Marmorsorten. Christian Bolt: «Es ist aufwendig, an reines Material zu kommen. Man muss gerissen sein, gute Beziehungen pflegen. Die Warteliste kann Jahre dauern. Dafür muss auch der Kunde Verständnis haben.» Und der Preis? «Der variiert, geht rasch in die Hunderttausende.»
Objekte aus Holz, Bronze, Wandreliefs und grossformatige Ölbilder vervollständigen sein Oeuvre. Schon als Bub wollte er genau das werden – Bildhauer. Bei den Brienzer Holzschnitzern, wen wunderts, fand er sein Glück aber nicht. Italien musste es sein! «Allerdings konnte ich damals kein Wort Italienisch. Und so ging ich als Hirte einen Sommer lang auf eine Tessiner Alp. Ich verdiente mir als 20-Jähriger ein Startkapital von 1000 Franken. Die Sprache gabs gratis dazu. Damit konnte ich an den besten Schulen die altmeisterliche Skulpturentechnik erlernen.»
Positiv unterstützt wurde er von Anfang an von seinen Eltern, die so rein gar nichts mit Kunst am Hut haben. Nun ist seine Frau Dominique, eine ehemalige Lehrerin, die wichtigste Kritikerin. Als er noch im ungeheizten Gartenhäuschen in Klosters-Monbiel arbeitete, wo die fünfköpfige Familie in einem Chalet wohnt, brachte er ab und zu eine Skulptur zur Begutachtung mit an den Mittagstisch. «Wenn es hiess: ‹Nimm sie doch bitte wieder mit zurück›, dann wusste ich, das Werk ist noch nicht richtig ausgereift.» Trotz seines Erfolgs nimmt der Kunstphilosoph eine demütige, fast schon sympathisch bescheidene Haltung ein. Noch immer strebt er täglich nach Ästhetik und Perfektion. Die Berührung mit dem Material steht dabei im Fokus. «Marmor ist sehr sinnlich. Je gröber die Bearbeitung, desto weisser die Farbe. Durchs Polieren wird er milchig. Erst dann erhält er diese wundersame Wärme und Tiefe, die mich jedes Mal von Neuem umhaut.»
Von Caroline Micaela Hauger
am 12. November 2023 - 07:00 Uhr
Author: Todd Wilson DDS
Last Updated: 1702003922
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