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Origin-Kritik zum Filmstart


Kritik der FILMSTARTS-Redaktion

Fünf Jahre nach ihrem katastrophalen Disney-Flop „Das Zeiträtsel“ meldet sich Ava DuVernay, die zwischenzeitig mit allerlei (Mini-)Serien wie „When They See Us“ oder „Queen Sugar“ beschäftigt war, im Kino zurück: Nach ihrem oscarnominierten Bürgerrechts-Drama „Selma“ wurde sie zwar von allen großen Hollywood-Studios umworben und sollte sogar einen DC-Blockbuster inszenieren – aber inzwischen ist es ihr so wichtig, wieder selbst die Zügel in der Hand zu halten, dass sie sogar den Streaming-Service Netflix ausbezahlt hat, für den sie ihre Adaption des Sachbuch-Erfolgs „Kaste. Die Ursprünge unseres Unbehagens“ ursprünglich umsetzen sollte.

Das nun komplett an Originalschauplätzen auf drei Kontinenten gedrehte Drama „Origin“ ist aber mehr als nur eine filmische Umsetzung der Analysen von Isabel Wilkerson, die in ihrem 2020 erschienenen Buch Linien zwischen verschiedenen Systeme der Unterdrückung zieht. Stattdessen legt DuVernay den Fokus auch auf die von persönlichen Schicksalsschlägen im Leben der Autorin gezeichnete Entstehungsgeschichte des Bestsellers. Das Ergebnis ist ein interessantes und sehenswertes Projekt, weil es die Tür für die spannenden Thesen der Vorlage öffnet. Zugleich ist es aber gar nicht so leicht, auf die Sachdiskussion einzugehen, wenn DuVernay ihren Film immer wieder mit mitunter regelrecht kitschigen Emotionalisierungen vollkleistert.

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Haben eine fantastische Chemie als Ehepaar: Aunjanue Ellis-Taylor und Jon Bernthal!

Als Trayvon Martin (Myles Frost) auf dem Nachhauseweg erschossen wird, einfach nur, weil er als Schwarzer Jugendlicher durch ein weißes Viertel gelaufen ist, bekommt Isabel Wilkerson (Aunjanue Ellis-Taylor) von ihrem Ex-Chefredakteur (Blair Underwood) das Angebot, über den Fall und seine breitere Bedeutung zu schreiben. Doch die Pulitzer-Preis-gekrönte Journalistin ist mittlerweile Buchautorin und will sich zudem mehr Zeit für ihr Privatleben nehmen. Erst als innerhalb eines Jahres ihr Mann (Jon Bernthal) und ihre Mutter (Emily Yancy) sterben, stürzt sich Isabel als Ausweg aus der Trauer in die Arbeit – und knöpft sich dabei die nach einem skandalösen Freispruch weiterhin tobende Debatte um Trayvon Martin vor.

Allerdings will sie nicht einfach noch einen Text über Rassismus schreiben, sondern einen deutlich größeren Bogen spannen: Sie setzt die Situation der Schwarzen in den USA mit jener der Juden im Dritten Reich und den Dalit im heutigen Indien in Bezug – und übernimmt dabei auch den Begriff der „Kasten“. Die Dalit, die auch die Unberührbaren genannt werden, stehen im Kastensystem ganz unten, haben keine Aufstiegschance und müssen in den Kloaken tauchen, um als Bezahlung Essenreste zu erhalten. Für ihre Studien reist Isabel nach Berlin und Neu-Delhi, während sie parallel über persönliche Erfahrungen nachdenkt und historische Fälle von Unterdrückung und Ausgrenzung recherchiert…

Für den Film wurden noch mal Bücher in Berlin verbrannt

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In den 130 Minuten Laufzeit von „Origin“ steckt eine Menge. DuVernay will wie ihre Protagonistin die ganz großen Bögen schlagen – vom privaten Drama über die Buchrecherchen auf drei Kontinenten hin zu historischen Ereignissen. Die Tötung von Trayvon Martin wird gleich zu Beginn nachgestellt, später folgt unter anderem die Bücherverbrennung auf dem Berliner Bebelplatz. Aber selbst wenn DuVernay da mit hunderten Statisten mitten in Berlin beeindruckende Schauwerte auffährt, bleibt durchaus die Frage, ob das alles wirklich nötig ist?

Dabei geht es weniger darum, dass es aus deutscher Perspektive wenig Neuigkeitswert hat, wenn Wilkerson mit staunenden Augen entdeckt, dass die Nazis bei der Frage, wie mit dem jüdischen Volk zu verfahren sei, auch auf Amerikas Umgang mit den Schwarzen geschaut haben. Störend (und überflüssig) sind aber die fast schon karikaturesken Nachstellungen der vorbereitenden Beratungen zu den Nürnberger Gesetzen, die man so allenfalls als semi-amateurhaftes Reenactment in einer TV-Doku erwarten würde.

Nicht nur ein simples Vergleichen!

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Während das private Drama vor allem durch das starke Spiel von Aunjanue Ellis-Taylor (oscarnominiert für „King Richard“) und Jon Bernthal („Marvel's The Punisher“) lebt, lenken die filmisch wenig überzeugend umgesetzten historischen Anekdoten eher vom eigentlichen Zentrum des Films ab: Wie Wilkerson mit dem Oberbegriff der „Kaste“ die Situationen in den USA, dem historischen Deutschland und dem heutigen Indien in Verbindung setzt, ist schließlich verdammt spannend. Aber darf man das überhaupt? Gerade einige deutsche Zuschauer*innen mussten da bei der Premiere in Venedig erst mal Schlucken – ist es doch für uns eine klare Sache, dass die systematische Auslöschung der Juden durch die Nazis ein absolut einmaliges Verbrechen darstellt.

„Origin“ adressiert dies selbst: In einer leider sehr schlechten, weil fast nur aus Plattitüden bestehenden Szene attackiert ihre deutsche Gastgeberin die Autorin wegen ihres Vorhabens. Der Angegriffenen fällt es in der Situation schwer, sich zu verteidigen. Am Ende argumentiert sie mit Todeszahlen – und setzt so Verbrechen gleich, die sie gar nicht gleichzusetzen gedenkt. Erst am nächsten Tag bei einem Telefonat mit ihrer Cousine fallen ihr die richtigen Entgegnungen ein: Es geht nicht ums Gleichsetzen – sondern darum, gemeinsame Systematiken zu erkennen und herauszuarbeiten, um so vielleicht sogar den Weg für eine bessere Welt zu ebnen.

DuVernay weiß, welche Knöpfe sie drücken muss

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Dabei muss man Wilkerson in ihrer zentralen These nicht einmal zustimmen, um trotzdem eine Menge spannende Denkanstöße mitzunehmen. Wobei DuVernay in ihrer Verfilmung enttäuschend wenig Raum zum (Mit-)Denken lässt: Vieles ist bis ins Detail ausbuchstabiert. Gerade die eingewobenen Rückblenden lassen in ihrer kitschigen Überinszenierung rein gar keine Leerstellen. Wenn wir die Geschichte des NSDAP-Mitglieds August (Finn Wittrock) und seiner jüdischen Geliebten Irma (Victoria Pedretti) sehen, lassen die Bilder nie einen Zweifel, wie wir gerade zu fühlen haben. So wird die interessante Frage, was diese Erzählung eigentlich für die Gegenwart bedeutet, schon im Keim erstickt.

DuVernay weiß, welche Knöpfe sie beim Publikum drücken muss, und das tut sie auch ausgiebig und bis ganz zum Schluss: „Origin“ schließt mit der Geschichte des neunjährigen Al Bright, der 1951 mit seinem Baseball-Team die Meisterschaft feiern will, aber im örtlichen Pool als Schwarzer nicht ins Wasser darf. So muss er hinter dem Zaun auf seinem kleinen Handtuch sitzenbleiben, während seine weißen Freunde (welche die Situation auch nicht verstehen können) im Wasser plantschen. Aber als ob das nicht schon wütend genug machen würde, kommt alles noch viel schlimmer.

Ist plakativ vielleicht richtig?

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Nach dem Fürsprechen seines Trainers darf der kleine Al doch noch in den Pool – allerdings nur, wenn er das Wasser nicht „terminiert“: DuVernay zelebriert in epischer Ausführlichkeit, wie der Junge ganz vorsichtig auf eine Luftmatratze steigt und eine Runde lang von einem Bademeister durch den Pool gezogen wird, während die Weißen, die für die Aktion den Pool verlassen mussten, ihn mitleidig anstarren. Eine vermeintlich „wohlwollende“ Geste, die in der totalen Demütigung endet. Das ist emotional auch hocheffektiv – und womöglich ist es sogar das richtige Bild für einen Film, der sich an ein möglichst breites Publikum richten und die Kraft des Kinos für sich (aus-)nutzen will. Die eigentlichen Thesen des Films verdrängt ein solcher Moment aber in den Hintergrund.

Vielleicht entfaltet „Origin“ daher erst dann seine volle Stärke, wenn man einige Stunden oder Tage nach dem Kinobesuch einen gewissen Abstand von den Bildern gewonnen hat und tatsächlich anfängt, über eine Zukunft ohne Kasten aller Art nachzudenken. Natürlich ist das eine absolute Utopie, die sich auch DuVernay nicht einmal vorzustellen traut. Um einen möglichen Weg dorthin aufzuzeigen, bleibt sie zu sehr an der Oberfläche, beschäftigt sich zu ausführlich mit der emotional wirkungsvollen, aber häufig auch arg plakativen Darstellung von Symptomen.

Von der Wichtigkeit der Erinnerungskultur

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Was ein möglicher Baustein sein könnte, macht die Regisseurin in einer kraftvollen Sequenz in Berlin deutlich: Wenn die Protagonistin durch die deutsche Hauptstadt schlendert und all die Beispiele von Erinnerungskultur sieht, etwa in den Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas steht, mag das für uns selbstverständlich sein. Aber DuVernay fordert damit natürlich zugleich auch eine ähnliche Erinnerungskultur für Amerika. Und auch wenn aus unserer Sicht auch in der deutschen Erinnerungskultur noch Verbesserungsbedarf gibt, herrscht hier die amerikanische Perspektive. Und diese zeigt Deutschland als fast schon traumhaftes Vorbild.

Fazit: Vielleicht ist in einer Zeit, in welcher in den USA Bücher aus Schulen verbannt werden, in Deutschland Antisemiten und Nazis an legislativem Einfluss gewinnen und in Indien weiter Menschen nur deswegen in der Scheiße tauchen müssen, weil sie in eine bestimmte Kaste geboren wurde, ein so einfach und platt emotionalisierender Film wie „Origin“ die beste Möglichkeit, ein größeres Publikum zu erreichen. Doch am Ende überwiegt trotzdem das Bedauern, dass einige der wirklich interessanten Denkansätze unter einer gewissen Betroffenheits-Befeuerung verschüttet werden.

Wir haben „Origin“ beim Filmfestival Venedig 2023 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.

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Author: Dennis Rodriguez

Last Updated: 1704597362

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Name: Dennis Rodriguez

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